
„Der Kafka-Kult: Vom Eigenbrötler zum Popstar“ (der Spiegel) publié le 23/09/2024
Am 3. Juni 1924 starb Franz Kafka in einem Sanatorium in Kierling (Österreich). Seit 100 Jahren wird sein Werk gelesen und interpretiert. Und es gibt genauso viele Interpretationen wie Leser. Zu jeder Denkschule gibt es eine Kafka-Lektüre. „Kafka jedoch scheint immer zu entwischen. Man will ihn greifen, und er ist weg.“ erklärt Xaver von Cranach in dem umfangreichen Dossier der Ausgabe Nr. 23 vom 1.6.2024 des Spiegels.
Das Titelblatt des Magazins lautet „Der Kafka-Kult - Vom Eigenbrötler zum Popstar“. In dem zehnseitigen Artikels Cranachs sind auch fünf ausländische Autoren zu lesen. Sie äußern sich zu ihrer Erfahrung und ihren Emotionen. Sie erwähnen, inwiefern das Lesen von Kafka und das Kafkaeske ihr Leben als Autoren und als Menschen geprägt hat.
Laut der südkoreanischen Kafka-Gesellschaft wäre ein Grund dafür, dass Kafka über alle Kontinente hinweggelesen wird : „Ein Kind kann ihn lesen. Ein Philosoph kann ihn lesen.“ Der Artikel von Cranach erklärt die Gründe warum.
Obwohl Kafka selbst wollte, dass seine etwa 350 geschriebenen Seiten vernichten werden, sind sie wie er untersterblich geworden. „Auf TikTok gibt es mehr als 100.000 Videos zu #Kafka, die zusammen mehr als 100 Millionen Mal angesehen wurden“. Cranach erklärt, wie junge Frauen und Männer sich mit Kafka identifizieren, nicht nur in Europa, sondern „auch über Länder- und Sprachgrenzen. Er ist eine Brand geworden, international vermarktbar, KafkaTM“.
Antiquitätenhändler suchen Exemplare von Kafkas Texten und verkaufen sie dann weiter - und teurer - auf dem internationalen Markt. „Der Proceß” ist wertvoll aber „Die Verwandlung“ ist noch kostbarer. Sie werden in Seoul, Shanghai, New York wie Tel Aviv gekauft.
Dort wie überall in der Welt, können sich zwar viele Leser gut vorstellen, wie man sich als Kind und Jugendlicher manchmal als fremd seiner Familie gegenüber fühlen kann. Cranach erklärt in seinem Artikel, warum Franz’ Kindheit in Prag chaotisch war. Er ist als Deutsch sprechender Jude in Prag aufgewachsen und las damals „alles : Romane, Reiseberichte, Expeditionsberichte aus dem Amazonasgebiet, am liebsten Abenteuergeschichten. Hauptsache, es geht raus in die Welt“.
Seine Welt als Erwachsener ähnelte einem schwierigen Balanceakt zwischen dem Alltagsleben (seine Arbeit als Versicherungsangestellter und seine Beziehungen zu Frauen) und dem Schreiben (nachts), zwischen seiner Zeit (Ersten Weltkrieg und Jahrhundertwende) und der Art und Weise, wie er auf seine Gesundheit achtete (Cranach meint, Kafka « würde heute Yoga machen und Ingwertshots trinken, Achtsamkeitsbücher lesen und auf Instagram tiefsinnige Zitatkacheln teilen »).
Er starb an den Folgen einer Tuberkulose. Am Sterbebett bat er seinem Freund Max Brod alles zu verbrennen, was er je geschrieben hatte. Brod tat es aber nicht. Die Blätter Kafkas, das heißt alle Handschriften des Autors, wurden von Brod gerettet. Sie wurden auf mehrere verschiedenen Weisen gerettet : Vor Kafka selbst, vor der Vernichtung der Nazis (ein großer Teil der Familie Kafka wurde deportiert), vor der Suezkrise. Brod hat nämlich die Handschriften Kafkas in einen Koffer gepackt und ist damit im März 1939 mit dem letzten Zug abgereist, der die polnische Grenze passieren durfte. 1956 entschied er sich dann den wertvollen Koffer von Tel Aviv in die Schweiz zu bringen. Max Brod wollte, dass er in einem Bankschließfach in Sicherheit sei.
Noch mehr Details sind im Artikel zu lesen, um zu verstehen, wie und warum die Handschriften dann in die Bodleian Library gelangt sind. Die Rekordsummen, für die „Der Proceß“ und die Briefe Kafkas an seine erste Verlobte Felice Bauer versteigert wurden, können ebenfalls im Artikel nachgelesen werden.
Doch Ruhm oder Geld wären überhaupt kein Ziel für Kafka gewesen. Cranach schreibt : « Sein Werk war wie sein Leben unabgeschlossen ». Er ist ein Autor, « der immer Autor blieb, immer Schreibender ». Cranach analysiert auch wie « Kafka beim Schreiben zuzusehen heißt, dem Leben dabei zuzusehen, wie es immer wieder in die Fiktion dringt, und der Fiktion, wie sie sich mühsam vom Leben abtrennen versucht ».
Kinder können ihn lesen, Philosophen und… Psychologen. Denn Kafkas Romane können auf verschiedene Weisen interpretiert werden. Da Leser der ganzen Welt Kafka lesen, gibt es also für das Kafkaeske so unterschiedliche Interpretationen. Aus diesem Grund bleibt Kafkas Werk sehr modern und aktuell.
Kafkas Texte sind in alle Sprachen übersetzt worden. Und Kafka ist heute zum TikTok-Star geworden. Was sonst als eine unerwartete Verwandlung ?